Der Traum von deutschen Verhältnissen

Die einen verteilen Kugelschreiber, die anderen regieren. So ist es in vielen Parteien. In der SPÖ regt sich jetzt Widerstand – auch mit Blick auf Deutschland

ZEIT ONLINE 6. Dezember 2013

Keiner hatte damit gerechnet, dass die Genossin Daniela Holzinger eine Rebellin sein könnte. Seit wenigen Wochen sitzt die 26-Jährige für die Sozialdemokraten im österreichischen Nationalrat und hat bereits mehr aufgemuckt als andere Genossen in ihrer gesamten politischen Karriere: Sie verlangt nach mehr Mitbestimmung der einfachen Mitglieder in der Partei und möchte die verkrusteten Strukturen der Sozialdemokratie aufbrechen.

In der SPÖ von Bundeskanzler Werner Faymann kommen solche Forderungen einer Kampfansage gleich. Und die neue Parlamentarierin ist keine Einzelkämpferin. In der österreichischen Sozialdemokratie gärt es, Abgeordnete wollen plötzlich mehr sein als Stimmvieh im Parlament, einzelne Landesparteien stellen sich offen gegen die Wiener Führungsriege und die Basis verlangt nach Mitsprache.

Während sich die SPD gerade ihren Mitgliedern stellt, will die SPÖ nur den Parteivorstand über das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP entscheiden lassen. Gegenwehr gibt es dort keine, Zustimmungsraten jenseits der 90 Prozent sind so gut wie sicher. Die Gremienkultur ist tief in die DNA der SPÖ eingeschrieben, die Struktur gilt als „jahrzehntelang bewährt“. Reformen? Nicht notwendig!

Als ein Wechsel im Fraktionsvorsitz der SPÖ anstand, der wie gewohnt von der Parteispitze diktiert wurde, schrieb Holzinger eine E-Mail an alle Abgeordneten. Es war ihre erste Nachricht an die Parteifreunde, von denen sie bis zu ihrer Wahl keinen einzigen persönlich kannte.

Die Studentin kommt aus Gampern, einem 2.700-Einwohner Dorf in Oberösterreich. Drei Mal in ihrem Leben war sie in Wien, bevor sie Parlamentarierin wurde. Die vermeintliche Unschuld vom Lande regte ein „internes Hearing“ über den neuen Fraktionsvorsitzenden an, als „Zeichen des Aufbruchs“. „Darüber haben alle sehr gelacht „, erzählt einer aus dem Parlament. Eine Antwort auf die Nachricht aus der Parteiführung blieb aus, keiner schrieb zurück.

Es brauche einen Wandel in der Partei, einen Aufbruch, sonst schaue die Zukunft düster aus, sagt Holzinger. Die rechtspopulistische FPÖ ist auf der Überholspur. Bei den Wahlen zum EU-Parlament könnte sie erstmals in ihrer Geschichte auf Platz eins landen und die Sozialdemokratie hinter sich lassen.

Von Erneuerung wolle die Parteiführung aber nichts wissen, seufzt die Oberösterreicherin, die Gegenstimmen seien zu wenige und zu leise – noch. „Wenn wir als Partei weiterhin die Meinung der Basis nicht hören, dann laufen wir Gefahr, weiter an Glaubwürdigkeit und somit an Rückhalt in der gesamten Bevölkerung zu verlieren!“

In den Ortsgruppen geparkt

Die SPÖ zieht eine scharfe Trennlinie zwischen jenen, die Politik machen und den anderen, den einfachen Mitgliedern, die bis zum Wahlsonntag Kugelschreiber, Feuerzeuge und Luftballons verteilen sollen und dann wieder bis zur nächsten Wahl in ihren Ortsgruppen geparkt werden.

Wer sich aber dort umhört, stößt im ganzen Land auf Unzufriedene. „In den Siebzigern forderten wir die Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche“, sagt einer, der seit 40 Jahren Mitglied ist, „aber die Partei haben wir dabei vergessen“. Andere klagen, dass sie Neuigkeiten nur aus den Medien erfahren, der Informationsfluss aus der Partei sei marginal – und eine Diskussionskultur mit der Basis sei quasi nicht existent.

Während die SPD ihren Mitgliedern zuruft: Ihr dürft mitmachen, heißt es für die Genossen im Nachbarland: „Wir müssen leider draußen bleiben.“ Wem das nicht passt, der darf gehen. Noch immer ist die SPÖ mit rund 240.000 Mitgliedern eine der größten sozialdemokratischen Parteien Europas – und sie ist konkurrenzlos in der österreichischen Parteienlandschaft, eine linke Alternative gibt es nicht.

Innerparteiliche Reformbewegungen sind stets rasch eingeschlafen. Der letzte kleinste gemeinsame Nenner ist die Ablehnung der rechten FPÖ. „Die Alternative zur SPÖ ist eine rechtspopulistische Regierung“, heißt es aus der Geschäftsstelle der Partei. Das „kokettieren mit dem Gang in die Opposition“ sei deshalb ein „gefährliches Spiel“. Die subtile Botschaft: Wir regieren um jeden Preis und wer sich gegen die Parteispitze stellt, spielt den rechten Recken um Heinz-Christian Strache in die Hände.

Bei den Wahlen Ende September erreichte die SPÖ 26,82 Prozent, das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Trotzdem reichte es für Platz eins und die zwei früheren Großparteien haben zusammen noch eine knappe Mehrheit. Inspiriert von der SPD, verlangte Anfang Oktober die Wiener Sektion 8, seit einigen Jahren eine besonders kritische Gruppe innerhalb der SPÖ, eine Urabstimmung zum Koalitionsvertrag und rief landesweit die Ortsgruppen dazu auf, sich auf einer Homepage einzutragen. „In Deutschland sind viele skeptisch, was die Urabstimmung betrifft“, sagt Nikolaus Kowall, der Vorsitzende der Sektion 8. „Ich sage dann immer: Freunde, ihr seid lustig, von euren Verhältnissen träumen wir.“

Bisher haben 114 von 3.312 Ortsgruppen unterschrieben – zu wenige, um eine Abstimmung zu erzwingen, doch die Liste könnte zur Landkarte der Rebellion werden. Wer nach potenziellen Verbündeten sucht, hat künftig ein Adressbuch kritischer Genossen zur Hand.

Keine Loyalität um jeden Preis

Während die SPD mit ihrem eigenen Programm und ihren Inhalten hadert, Seeheimer, Linke und Anti-Agenda ausbalancieren muss, entfallen diese mühsamen Prozesse für die SPÖ. Inhalte scheinen passé, und doch war man bislang vorsichtig genug, die sozialdemokratischen Werte nicht so weit hinter sich zu lassen, wie es Gerhard Schröder in seiner zweiten Regierungszeit tat. Trotzdem stehen SPD und SPÖ an einem ähnlichen Scheideweg: Will man wieder eine mitgliederbasierte Bewegung mit klaren gesellschaftlichen Vorstellungen werden oder eine Kaderpartei für karriereorientierte Berufspolitiker? Während man sich in Berlin eher für die Mitglieder entschied,  biegt man in Wien in eine andere Richtung ab. Der Protest ist vorprogrammiert.

Daniela Holzinger, die Rebellin aus der Provinz, ist derweil der SPD beigetreten. Zu spät, um an der Urabstimmung teilzunehmen, aber als Zeichen für den „vorbildlichen Weg“ und eine „Art Unterstützung des offenen und transparenten Weges der Mitgliedereinbindung“, sagt sie. Und im Wiener Parlament? 4.500 Hausbesuche absolviert sie in ihrem Bezirk, besonders diesen Wählern sieht sie sich verpflichtet. Willfährige Vollzieherin von Parteiinteressen möchte sie nicht sein. „Damit müssen die nun klarkommen“, sagt sie und lacht. „Geschlossenheit in einer Partei ist wichtig, aber Loyalität um jeden Preis, das gibt es bei mir nicht.“

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Auf glattem Eis

Der Innsbrucker Glaziologe Georg Kaser gehört zu den weltweit einflussreichsten Klimaforschern.

DIE ZEIT 48/2013

Die Frage nach der Zukunft der österreichischen Gletscher kann Georg Kaser nicht mehr hören. Auf der Zugfahrt von Wien nach Innsbruck ziehen soeben die ersten Tiroler Gebirgszüge an den Fenstern vorbei. Im Grunde dürfe ihn die Frage nicht nerven, meint Kaser, aber es komme ihm vor, als sei für die Österreicher einzig das Schicksal der heimischen Gletscher von Interesse, wenn die Auswirkungen des Klimawandels zur Debatte stehen. Es gehe jedoch um das große Ganze, um ein globales Problem, das nur global gelöst werden könne. Die Zukunft der Pasterze am Großglockner oder des Hintereisferners in den Ötztaler Alpen seien dabei nicht einmal Fußnoten.

Georg Kaser liebt Gletscher seit seiner Jugend. Die Leidenschaft hat der heute 60-Jährige zu seinem Beruf gemacht. Als Glaziologe an der Universität Innsbruck legte er eine Weltkarriere hin. Der Südtiroler ist einer der renommiertesten Gletscherforscher der Welt und arbeitete als einziger Wissenschaftler aus Österreich bereits zum zweiten Mal beim Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) mit, dem Weltklimarat der Vereinten Nationen, dem 2007 gemeinsam mit Al Gore der Friedensnobelpreis verliehen wurde.

Der IPCC-Report ist das weltweite Standard-Nachschlagewerk zum Klimawandel, die Grundlage für internationale politische Verhandlungen zur globalen Erwärmung. Im nun erschienenen Bericht wurde zum fünften Mal seit 1992 der wissenschaftliche Kenntnisstand zur globalen Erwärmung gesammelt. Die Erstellung ist ein mühsamer und jahrelanger Prozess. 209 Leitautoren, darunter Georg Kaser, und 500 weitere Mitarbeiter sind daran beteiligt.

Am Ende wurde mit Vertretern aller Regierungen die Summary for Policymakers erstellt. In tagelangen Verhandlungen wurde in Stockholm um jede Zeile debattiert und um jede Formulierung gerungen, am letzten Tag 24 Stunden lang, ohne Unterbrechung

Georg Kaser schläft derzeit wenig. Seit Monaten ist er auf Achse. Er trägt gelbe Sportschuhe und ein blaues T-Shirt, den schweren Aluminiumkoffer, aus dem er derzeit lebt, hat er neben dem Sitz abgestellt. Er wirkt nicht wie ein Professor, eher wie ein Alpinist, der müde und ausgelaugt von einer langen, mühevollen Expedition zurückkehrt ist.

Im September verhandelte er in Stockholm, pendelte dann zwischen Vorträgen in Wien und Vorlesungen in Innsbruck hin und her. Nur ein paar Tage verbrachte er bei seiner Frau in Meran, bevor er vergangenes Wochenende bei der Weltklimakonferenz in Warschau Vorträge über den Rückgang der Gebirgsgletscher und neue Erkenntnisse zur Kryosphäre, dem mit Eis bedeckten Teil der Erde, hielt.

Georg Kaser spricht vorsichtig, untermauert alles mit Beispielen und wissenschaftlichen Referenzen. Bei Fragen, die nicht in sein Fachgebiet fallen, winkt er ab. Die Klimadebatte findet in einem Minenfeld statt. Er weiß, dass jedes seiner Worte auf die Goldwaage gelegt wird, von Politikern, Journalisten, Kollegen. „Wenn ich im Fernsehen gefragt werde, was die Politik tun müsse, um das 2-Grad-Ziel zu erreichen, dann antworte ich nicht“, sagt er. „Das wurde mir oft als Arroganz ausgelegt, aber nur so kann ich meine Glaubwürdigkeit und meine Aussagekraft erhalten.“ Er will keine Ratschläge erteilen, sondern Forschungsergebnisse vorlegen. Er sei kein Umweltschützer, Politik müssten andere machen.

Viele Klimaforscher sahen ihr Gewerbe anders. Sie versuchten mit möglichst drastischen Bildern Aufmerksamkeit zu erheischen und dienten sich Medien als willfährige Propheten der Apokalypse an. Berühmt wurde beispielsweise das von wissenschaftlichen Modellrechnungen inspirierte Cover des Nachrichtenmagazins Spiegel aus dem Jahr 1986, auf dem unter dem Titel Die Klima-Katastrophe der Kölner Dom unter Wasser stand.

Die Wissenschaft wurde so zum Verbündeten der Umweltschützer. „Statt nur ihren Job zu tun, das Klimasystem und seine Reaktion auf den Treibhausgaseintrag zu erforschen und der Politik Handlungsoptionen aufzuzeigen, suggerierten nicht wenige Klimaforscher der Öffentlichkeit, ihre Befunde determinierten eindeutig, wie nun zu handeln sei“, schreiben der Klimaforscher und frühere IPCC-Autor Hans von Storch und der Küstenforscher und Ethnologe Werner Krauß in dem Buch Die Klimafalle – Die gefährliche Nähe von Politik und Klimaforschung.

Eine Verwässerung der Wissenschaft zugunsten von Aktivismus lehnt Georg Kaser ab. Pauschale Zuspitzungen um der Schlagzeile willen sind ihm zuwider. So lief er Sturm gegen die Prophezeiung in der Entwurfversion des vorletzten IPCC-Berichts, der Kilimandscharo werde wegen der globalen Erwärmung abschmelzen – viele wünschten sich den berühmtesten Berg Afrikas zum Posterboy der Klimakatastrophe. Kaser intervenierte und hatte Erfolg – die Passage wurde gestrichen. Eine andere Fehlprognose verursachte hingegen die bislang größte Blamage des IPCC und schleuderte Kaser mitten hinein in einen globalen Kampf um Deutungshoheit.

Im Entwurf zu Kapitel 10.6.2 des Weltklimaberichts von 2007 fand sich die Vorhersage, die Gletscher im Himalaya würden bis zum Jahr 2035 verschwinden. Ein haarsträubender Tippfehler, der aus einem Bericht des World Wildlife Fund übernommen worden war. Es hätte 2350 heißen müssen. Georg Kaser las den Text und schrieb an das IPCC in Genf, die Zahl könne keinesfalls stimmen. Eine Antwort blieb aus, der Report wurde veröffentlicht.

Erst drei Jahre später wurde der Fehler entdeckt. Das indische Umweltministerium gab eine eigene Untersuchung zum Himalaya in Auftrag, deren Ergebnisse der alarmistischen 2035er-Prognose vehement widersprachen. Der Vorsitzende des IPCC kanzelte die Untersuchungen des Ministeriums zunächst noch als „Voodoo-Wissenschaft“ ab.

Der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte Kaser indes ins Mikrofon: „Diese Zahl ist so falsch, dass es gar nicht wert ist, weiter darüber zu sprechen.“ Die Aussage löste ein Erdbeben aus, Fernsehsender und Zeitungen auf der ganzen Welt zitierten den Satz. Der IPCC, die weltweit höchste wissenschaftliche Instanz zur Klimaforschung, war bei einem Fehler ertappt worden.

Im Büro des Glaziologen läutete daraufhin das Telefon pausenlos, jeder wollte ein Zitat dieses Forschers aus Innsbruck. Die Fragenflut ließ sich nur bewältigen, weil Kaser im Schichtbetrieb mit einem Kollegen im fernen Australien den Wissensdurst der Medien rund um die Uhr stillte. Man wollte Namen, Schuldige, am liebsten den IPCC-Chef selbst. „Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass mir das eine Schuhnummer zu groß wird“, sagt Kaser. Er fühlte sich als Spielball, und irgendwann sagte er gar nichts mehr.

Der Fehler wurde schließlich korrigiert, der Imageschaden aber war gewaltig, und Georg Kaser sehnte sich zeitweilig zurück in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm, „um dort nur nach den Spielregeln der Wissenschaft Erkenntnisgewinn zu schaffen“.

Vielleicht sehnte er sich auch zurück in seine Jugend, als die Berge eine unschuldige Leidenschaft waren. Der Vater, Angestellter einer Kellereigenossenschaft, und die Mutter, die als Hausfrau zu Hause war, nahmen ihn früh mit in die heimatlichen Dolomiten. Als Jugendlicher verbrachte er jede freie Minute in den Südtiroler Felswänden, ehe es ihn in die Welt hinaus zog, auf Expeditionen in die Anden oder in das Karakorum-Massiv in Zentralasien, während denen seine Mutter zu Hause stets angstvoll auf die Rückkehr des Sohnes wartete.

Heute noch spricht er voller Leidenschaft von den einzigartigen Erfahrungen auf Gletschern, von dem Erlebnis, den Tag dort, hoch oben in der Einsamkeit, beginnen zu lassen; wie es knarzt, kracht und scheppert, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf das Eis treffen.

Dass aus der Vernarrtheit ein Beruf wurde, war Zufall. Ziel- und orientierungslos folgte er nach der Schule seiner Freundin nach Innsbruck. Die Liebe war bald verflogen, doch der junge Alpinist hatte herausgefunden, dass das Institut für Meteorologie Feldforschung auf Gletschern betreibt. Grund genug, zu bleiben und sich in das Fach zu vertiefen.

Im Jahr 1988 arbeitete Kaser in Peru, in der Nähe von Huaraz, nördlich von Lima. Für die Region sind die umliegenden Gletscher als Wasserreservoir lebenswichtig. Eislawinen und ausbrechende Seen stellen immer wieder Bedrohungen dar. Kaser und ein britischer Wissenschaftler beschäftigten sich mit dem Rückgang der Gletscher sowie der Bedrohung durch Eisstürze – und sahen sich plötzlich mit der Welt abseits der Wissenschaft konfrontiert. Die Terrororganisation Leuchtender Pfad tauchte im Forschungsgebiet auf, und als die Wissenschaftler einen peruanischen Minister am Flughafen treffen sollten, stießen sie statt auf den Politiker auf Militärfahrzeuge und Soldaten. Die maoistische Bewegung hatte die Landung verhindert, die Forscher zogen unverrichteter Dinge ab und verließen wenig später das Land. Ihr Hotel wurde kurze Zeit darauf das Ziel von Bombenanschlägen, an eine Rückkehr, um die begonnene Arbeit weiterzuführen, war nicht zu denken.

Die Glaziologie erschien abrupt in neuem Licht. Sie war nicht mehr nur eine Orchideenwissenschaft, ein Vehikel, das ihm erlaubte, seinem Hobby nachzugehen. Gletscherforschung, das sei ihm damals klar geworden, arbeite „vorne an der gesellschaftlichen Front“, erzählt er heute.

Wohl auch deshalb unterscheide sich die Atmosphäre bei den Autorentreffen des IPCC von allem, was er als Wissenschaftler bis dahin erlebt habe, erzählt Kaser. Tagungen und Konferenzen seien üblicherweise geprägt von Konkurrenzdenken, „jeder schaut, was der andere macht, alle überlegen, was sie sagen oder besser für sich behalten. Im IPCC herrscht eine andere Stimmung, allen ist klar: Wir müssen gemeinsam an etwas arbeiten.“

Und wie klingt die Prognose des nüchternen Wissenschaftlers für die heimischen Gletscher? „Das Klima der letzten 15 Jahre lässt sie nicht überleben“, sagt er trocken, fast nebenbei. Über Gedeih und Verderb der Österreicher wird das allerdings nicht entscheiden, das Hochgebirge werde sich aber radikal verändern. Wie in den Pyrenäen werde es in Tirol einmal aussehen, wenn die Gletscher irgendwann verschwunden sind. „Aber dort ist es ja auch nicht hässlich.“ 

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Jung, radikal, liberal

In Österreich ist etwas gelungen, was als unmöglich galt: Eine neue, liberale Partei zog auf Anhieb ins Parlament ein. Sind die Neos eine Vorlage für die FDP?

ZEIT ONLINE 21. Oktober 2013

Sie wollen klotzen und nicht kleckern: Gerade erst ins österreichische Parlament gewählt, stellen die Neos schon den Anspruch, mitzuregieren. „Die brauchen dringend Hilfe“, sagt Matthias Strolz, der Parteichef der jungen und bunten Truppe. Er meint damit die beiden Großparteien SPÖ und ÖVP, die gerade wieder eine Große Koalition verhandeln. „Wir können diese Hilfe sein.“ Understatement ist keine Kategorie, in welcher der 40-Jährige denkt. Und seine Mitstreiter ebenso wenig: Die  Partei strotzt vor Selbstbewusstsein, nachdem ihr gelungen ist, was nur wenige für möglich hielten: Auf Anhieb schafften die Neos, eine Mischung aus ÖVP und Grünen, den Einzug in den Nationalrat.

Noch vor wenigen Monaten galt die österreichische Politik als Beispiel für eine Parteienlandschaft, in der keine Partei eine Chance hat, die sich selbst als programmatisch-liberal bezeichnet. Doch die Zeiten haben sich geändert: Während die FDP aus dem Bundestag flog, schaffte in Österreich zum ersten Mal in der Geschichte des Landes seit 1945 eine liberale Gruppierung aus eigener Kraft den Einzug. 4,96 Prozent der Stimmen konnten die Pinken ergattern, überwanden die Vierprozenthürde und stellen künftig neun Abgeordnete (sieben Männer und zwei Frauen) – mit einem liberalen Programm und einem kompromisslosen Bekenntnis zur europäischen Integration. Hans Dietrich Genscher lobte im Spiegel die „Munterkeit“ der neuen Partei.

Geht es nach den Neos, ist die österreichische Politik ein finsterer Ort, ein Jammertal, das fest im „Würgegriff alteingesessener Parteien“ ist und aus dem die pinkfarbene Bewegung nun herausführen möchte. Matthias Strolz geriert sich als Antipol zu den oft langweiligen Protagonisten der Regierung: Während diese das Publikum oft genug mit substanzlosen Antworten langweilen, wirkt Strolz in Interviews aufgedreht wie Popeye auf Spinat. Politik darf plötzlich wieder Spaß machen.

Der Wunsch nach Veränderung war groß. Seit Jahren jagt in Österreich ein politischer Korruptionsskandal den nächsten, die Große Koalition gilt als Synonym für Stillstand. Viele sehnten sich nach Alternativen, doch die extrem rechte FPÖ, in der die letzten Reste von Liberalismus in den achtziger Jahren von Jörg Haider weggeputscht wurden, ist für viele unwählbar und die Grünen erscheinen manchen zu paternalistisch.

Vor zwei Jahren begann sich die Zivilgesellschaft zu regen, der Kabarettist Roland Düringer hielt im Fernsehen eine „Wutbürgerrede“, in der er Politik und Medien angriff. Wutbürgerstammtische wurden gegründet und die Verachtung des Systems gehörte nun zum guten Ton von Intellektuellen – ein fruchtbarer Boden für die neue Gruppierung, die sich damals bildete. Viele von ihnen kamen aus der ÖVP, waren an deren Strukturen verzweifelt. „Ich dachte tatsächlich, man könne die ÖVP liberaler und offener machen“, sagt Feri Thierry, der designierte Geschäftsführer der Neos. „Doch nach zwanzig Jahren muss man akzeptieren, dass das nicht möglich ist, das ist eine nicht reformierbare Partei.“

Lieblingspartei der Medien

Das potenzielle Klientel war rasch ausgemacht: Man wandte sich an Modernisierungsgewinner, an gut Ausgebildete, die erfolgreich im Berufsleben stehen; die gehobene urbane Mittelschicht. Bald schloss sich das Liberale Forum an, eine Partei, die sich 1993 von der FPÖ abspaltete und mehrfach an der Vierprozenthürde scheiterte.

Auch die Medien forderten Veränderung und sahen in den Neos eine Alternative. Linksliberale wie konservative Tageszeitungen lobten die junge Partei in den Himmel, sie gaben im Grunde Wahlempfehlungen ab. Ein privater Fernsehsender lud gar den Großspender, den Industriellen Hans Peter Haselsteiner, in eine Sendung ein, in der sonst nur die Spitzenkandidaten der Parlamentsparteien auftreten durften.

Das joviale Auftreten des Spitzenkandidaten und die nette pinke Farbe verhüllten die Radikalität des Programms: Hohe Pensionen sollen gekürzt werden, Schulen eine völlige Autonomie erhalten, der Föderalismus reformiert und Privatisierungen vorangetrieben werden. Beispielsweise soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk verkauft werden. Sozialleistungen sollen größtenteils abgeschafft und durch ein sogenanntes BürgerInnengeld ersetzt werden und Tarifverträge nur noch Mindeststandards regeln. Alles andere, wie die Arbeitszeiten, soll in den Betrieben verhandelt werden.

Unveränderbar sind die Positionen der Neos noch nicht. So sind die Forderungen nach „abschreckenden Strafen für Schlepper“ und der Sicherung der „personellen und finanziellen Ausstattung von Frontex“ im Programm nachzulesen; nach der Katastrophe von Lampedusa soll hier nachgebessert werden. Andererseits spricht sich das Programm für eine europaweite Finanztransaktionssteuer aus sowie dafür, die Beziehungen der EU mit der Türkei zu vertiefen und die Beitrittsverhandlungen „forciert“ fortzuführen.

Liberalismus ist kein Dogma

Ideologisch sind die Neos nicht einzuordnen, sie selbst bezeichnen sich als „postideologische Zentrumspartei“. Liberalismus ist für sie kein Dogma, Wörter wie „Anschlussverwendung“ kommen ihnen nicht über die Lippen. „Eigenverantwortung bedeutet nicht, ’schau selbst, wo du bleibst‘, sagt Angelika Mlinar, die Listenzweite, „das ist eine Pervertierung des Begriffs“.

Der Großteil der Neos-Wähler kam von ÖVP und Grünen. Sie wählten die Partei weniger wegen ihres Programms, sondern aus Groll gegen die anderen. Der Erfolg gibt den Pinken recht, auch wenn er ihnen hie und da zu Kopf gestiegen scheint. „Ein Jahrhundertprojekt“ sei gelungen, tönte Matthias Strolz kürzlich. Zu den EU-Wahlen nächstes Jahr wollen sie antreten, mit dem Alleinstellungsmerkmal, die proeuropäischste Partei des Landes zu sein. Erfolg durch ein Bekenntnis zu Europa? Vielleicht auch ein Zukunftsmodell für die FDP.

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Der Milliardär verlangt sein Geld zurück

Frank Stronach wollte die Politik neu erfinden. Er investierte viel Geld und scheiterte desaströs. Nun kehrt er nach Kanada zurück. Seine Millionen will er wiederhaben.

ZEIT ONLINE 10. Oktober 2013

Frank Stronach ist wieder weg. Nach der Wahlschlappe bestieg er sein Flugzeug und düste Richtung Amerika. Sein politisches Projekt ist vorerst gescheitert. Keine sechs Prozent erreichte sein „Team Stronach“ bei den österreichischen Nationalratswahlen vor knapp zwei Wochen. Gehofft hatte er auf vier- bis fünfmal so viel.

Bevor der 81-jährige Patriarch abhob, machte er noch rasch klar, wer der Boss ist und krempelte seine gerade erst gegründete Partei um: Geschäftsstellen in den Bundesländern wurden geschlossen, die Führungen der Landesorganisationen im Handstreich entmachtet, der Parlamentsklub neu geordnet und die Führung der Bundespartei mit Vertrauten besetzt. Zurück bleiben eine zerrüttete Partei, düpierte Funktionäre und ein Haufen Schulden – bei ihrem Gründer; denn der reiche Onkel aus Amerika will sein Geld zurück.

Dabei war die Ausgangslage für eine neue politische Kraft gar nicht schlecht: Ständig neue Korruptionsskandale erschüttern seit Jahren das Land, die Politik der Großen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP wird als Stillstand wahrgenommen und als Protestpartei bot sich lange nur die extrem rechte FPÖ an. Im August 2012 verkündete der gebürtige Steirer Frank Stronach, bei den Nationalratswahlen antreten zu wollen. Er war mit seinem Autozuliefererkonzern Magna in Kanada zum Milliardär geworden. Nun trat er an, um die Politik in der Alpenrepublik zu reformieren. Zwanzig bis dreißig Prozent der Stimmen war seine Zielvorgabe.

Er duzte alle beharrlich

Schnell, noch in der vergangenen Legislaturperiode, hatte er genügend Überläufer im Wiener Parlament gefunden, um eine eigene Fraktion zu gründen – den Vorwurf sie seien gekauft worden, wiesen alle zurück. Ohne je gewählt worden zu sein, war Stronach zur politischen Kraft im Nationalrat geworden. Vom österreichischen Berlusconi war plötzlich die Rede, der die politische Kultur verändern könnte.

Sein Auftreten war skurril und gefiel trotzdem vielen. Er duzte beharrlich Journalisten, wie Kontrahenten, beantwortete Fragen nur, wenn sie ihm gerade ins Konzept passten, scherte sich wenig um Konventionen und verkündete auch im deutschen Fernsehen, etwa bei Sandra Maischberger, seine Parolen: das geeinte Europa sei böse, der Euro gehöre abgeschafft und überhaupt: Die Wirtschaft sei gut und die Politik von Grund auf schlecht.

Posen mit nacktem Oberkörper

Auch in den Bundesländern bediente er sich beim Personal anderer Parteien. Das Team Stronach zog in drei Landesparlamente ein und sitzt seit April sogar in Salzburg in einer Koalitionsregierung mit der konservativen ÖVP und den Grünen. Doch das Personal wurde beständig wunderlicher. In Kärnten, dem südlichen Bundesland in dem einst Jörg Haider herrschte, wurde ein früherer SPÖ-Bürgermeister zum Parteichef ernannt, der ein paar Jahre zuvor energetische Kräfte an sich entdeckt haben soll. Er könne beispielsweise durch das Auflegen der Hände Verspannungen lösen. Mit dieser Gabe behandelte er fortan Stronachs Pferde und der kauzige Wirtschaftsmagnat sei für ihn bald zum „väterlichen Freund“ geworden.

Was zu Beginn noch skurril-komisch war, wurde zunehmend tragisch. Spätestens als Frank Stronach selbst in den Ring stieg und in Fernsehdebatten auftrat, wurde der Patriarch für seine Partei zum Problem: Er posierte mit nacktem Oberkörper, plädierte für die Einführung der Todesstrafe für Berufskiller und machte sich Gedanken über einen Einmarsch Chinas in Österreich.

 

Das ging sogar den Österreichern zu weit, die für herben Zynismus sonst durchaus offen sind. Das zeigte das desaströse Wahlergebnis, das in keinem Verhältnis zu den hohen Kosten stand: 25 Millionen Euro hat Stronach in seine Truppe investiert und nur 5,7 Prozent haben sie gewählt – die deutsche SPD hatte für den Bundestagswahlkampf ein Budget von 23 Millionen Euro. Dementsprechend lang waren die Gesichter auf der Party am Wahlabend in einem Hotel in der Wiener Innenstadt. Von den Parteigranden war nur Robert Lugar anwesend, bis dahin Klubobmann der Stronach-Fraktion im Parlament. Allein musste er das Ergebnis schönreden – kurz darauf wurde er seines Amtes enthoben. Nun ist er wieder einfacher Abgeordneter.

Macht lässt sich nicht kaufen

In den Tagen seit der Wahl wirbelte Frank Stronach die Partei durcheinander, entmachtete Landeschefs, auch den Energetiker seiner Pferde, setzte stattdessen Vertraute ein und forderte 10 Millionen Euro von der Partei zurück; das Geld sei nur ein Darlehen gewesen. Als sich zaghaft Widerstand regte, ließ er aus Übersee über die Tageszeitung Kurier lapidar ausrichten: „Was die wollen, ist egal.“

Stronachs politisches Experiment in Österreich ist gescheitert. Selbst die FPÖ hat inzwischen eine Zusammenarbeit mit dem Team Stronach ausgeschlossen. Macht lässt sich nicht so einfach kaufen. Die einstigen politischen Glücksritter, die darauf hofften, auf einem Stronach-Ticket in eine unbeschwerte Zukunft reisen zu können, sind hart auf dem Boden der autokratischen Realität gelandet. Sie müssen ausbaden, was ihnen ihr Parteiführer hinterlassen hat. Geblieben sind elf zankende Parlamentsabgeordnete und drei Landesparteien, die sich künftig wohl mehr um Abgrenzung von der Chaostruppe in Wien bemühen werden – der Kärtner Energetiker droht gar mit Abspaltung.

Und der Boss? Der ist weit weg von alledem und kann sich in Kanada wieder anderen Dingen zuwenden; etwa Adena Gourmet Grill, seiner neuen Steakhouse-Kette.

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Wir Bessermenschen

Grün wählen ist zum Lifestyle geworden: Es geht um das Wohl der Allgemeinheit, aber auch um die Steigerung des eigenen Glücksgefühls. von 

Samstagmorgen, acht Uhr. Ein Bauernmarkt im Westen Innsbrucks. Leichter Regen prasselt auf die Dächer der Stände. Glückliche Stadtbewohner versorgen sich hier mit Biogemüse, frischem Schafskäse und Milch von artgerecht gehaltenen Kühen: Es ist das natürliche Umfeld des typischen Grünwählers. Und davon gibt es viele in Innsbruck. Die Stadt ist eine Hochburg der Ökopartei, die zuletzt bei den Landtagswahlen sogar den Platzhirsch ÖVP hinter sich ließ. Der grüne Spitzenkandidat Georg Willi klappert nun die Bauernmärkte Tirols ab, denn deren Kunden „leben urban, wissen die Arbeit der Bauern zu schätzen und möchten wissen, woher das Essen kommt“, sagt er. Wer hierher radelt, gehört zu seiner Kernklientel und hat es nicht nötig, seine Lebensmittel beim Discounter zu kaufen. Vor dem Supermarkt nebenan haben heute FPÖ-Aktivisten einen Stand aufgebaut und buhlen um die Stimmen der Schnäppchenjäger.

Doch ist es tatsächlich so einfach? Sind die Wähler der Grünen ein wandelndes Klischee mit Jutesack?

Vom Erscheinungsbild seiner Klientel hat der grüne Bundesgeschäftsführer Stefan Wallner jedenfalls klare Vorstellungen: „Frau, Ende 30, Anfang 40, berufstätig, hat ein Kind, ist urban-sportlich gekleidet, mit dem Fahrrad unterwegs, verwendet ein iPhone“, sagte er in einem Interview mit derStandard.at. Sind das die Wähler, welche der einstigen alternativ-sozialen Bewegung zu fast 15 Prozent Stimmenanteil verhelfen sollen? Von den Ökofundis in Sandalen, die ihre Gefühle im Ausdruckstanz darstellen, sind nur noch wenige übrig, und auf autarken Bauernhöfen im Waldviertel leben auch keine Wählermassen. Die Partei ist breiter geworden – eine Volkspartei, welche die Menschen anspricht, die früher vielleicht gegen Zwentendorf-Gegner demonstriert hätten.

Heute lautet die Faustregel: Das Bevölkerungssegment, das die größten Erfolge verspricht, lebt urban und ist höher gebildet. Nur fünf Prozent aller Personen mit Lehrabschluss wählten 2008 grün, dafür aber jeder fünfte Maturant und Akademiker. In Gemeinden unter 10.000 Einwohnern gewannen die Grünen keinen Blumentopf, dafür schnitten sie in Städten über 50.000 Einwohnern umso besser ab.

Die Reduzierung seiner Stammwähler auf ein paar typische Merkmale möchte Stefan Wallner heute nicht mehr wiederholen. Der frühere Generalsekretär der Caritas sitzt in der Wahlkampfzentrale in Wien und präsentiert eine detaillierte Zielgruppenstudie, die sogenannten Sinus-Milieus. Mit ihnen wird die Gesellschaft vermessen, und Menschen werden in zehn Milieus unterteilt, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Die Wahlkämpfe seien früher zu ernst gewesen, zu schulmeisterlich: „Wir haben zum größten Teil nur unsere Kernwähler angesprochen“, sagt Wallner, die Postmateriellen, die typischen Grünfunktionäre, die Wert auf individuelle Selbstverwirklichung legen und sich als kritische Verbraucher sehen. „Doch wir sind längst mehr.“

Wachstumschancen sehen die Grünen vor allem im Milieu der Performer, der „multi-optionalen, effizienzorientierten Leistungselite mit global-ökonomischem Denken und stilistischem Avantgarde-Anspruch“, wie sie das Sinus-Institut beschreibt. Kurzum: Die urbanen Gutverdiener, Ärzte, Anwälte, Unternehmer; die frühere ÖVP-Klientel findet sich inzwischen immer öfter bei den Grünen besser aufgehoben.

Auch bei den Mitgliedern der jungen Spaßgesellschaft, den Hedonisten, die elf Prozent der Gesellschaft ausmachen, rechnet man sich Chancen aus. Sie interessieren sich nur wenig für Politik und schon gar nicht für Umweltschutz. Trotzdem hat jeder Fünfte Sympathien für die Grünen, die versuchen, mit Themen wie billigen Öffi-Tickets zu punkten. In diesem Milieu treffen sie auf einen ungewohnten Gegner: die FPÖ. Mit den Freiheitlichen um dieselbe Wählerschicht zu buhlen, daran müssen sich anscheinend manche Grünfunktionäre erst gewöhnen.

Sind Grünwähler wohlhabender als der Rest? In Deutschland untersuchte die Universität Leipzig 2012, aus welcher Einkommensschicht die Wähler welcher Partei kommen. Das Ergebnis: Nur vier Prozent der Grünwähler haben ein monatliches Haushaltseinkommen von weniger als 1.000 Euro, 45 Prozent eines über 2.500 Euro – nur FDP-Wähler verdienen besser. In Österreich gibt es keine entsprechende Untersuchung, eine Erhebung könnte aber ähnlich ausfallen. „Wenn Personen, die eine höhere Bildung haben, die Grünen wählen, dann kann man davon ausgehen, dass es diejenigen sind, die auch höhere Einkommen haben“, sagt Sylvia Kritzinger, Vorständin des Zentrums für Methoden der Sozialwissenschaften an der Universität Wien und eine der Leiterinnen der Austrian National Election Study, der bislang größten universitären Studie über das Wahlverhalten. „Wer die Grünen wähl, tut das meistens nicht aus wirtschaftlichem Interesse“, sagt sie.

Was wir sagen, ist gut, und das Gute ist alternativlos

Die Wahlentscheidung ist zum altruistischen Lifestyle geworden, das „grüne Lebensgefühl“ hat das Eigeninteresse überwunden. Wer „uns wählt, tut das nicht aus egoistischen Motiven“, sagt Michel Reimon, grüner Landtagsabgeordneter aus dem Burgenland. „Es geht unseren Wählern nicht um ihre kurzfristigen Vorteile, sondern um ein übergeordnetes Ziel. Das erfordert schon eine gewisse Reflexionsfähigkeit.“

Ein wenig Paternalismus schwingt immer mit, wenn Grüne ihre Themen präsentieren. Traten sie einst an, um die Welt zu verbessern, so wirken ihre Wahlkämpfe heute wie ein Erziehungsprojekt, welches der Gesellschaft einen bestimmen Lebensstil aufzwingen möchte; garniert mit ein wenig Überheblichkeit und viel Rechthaberei. Die Plakate tun das Ihrige und erzeugen ein Wir-Gefühl der Besserwisser: Wir sind weniger belämmert, die anderen demnach umso mehr. Und wenn die Radfahrer in der Wiener Mariahilfer Straße an den Bodenmarkierungen scheitern, haben sie einfach nichts verstanden. Vielleicht ist es nur verfehlte Öffentlichkeitsarbeit, aber keine Partei wirkt so bevormundend: Was wir sagen, ist gut, und das Gute ist bekanntlich alternativlos.

Schnellbahn statt Autobahn, Tempo 80 und höhere Spritpreise fordert der Grünwähler aus dem dicht bebauten Stadtgebiet mit U-Bahn und Straßenbahn vor der Haustür. Grün zu wählen kann das Gewissen beruhigen: Wie eine Mitgliedschaft bei einem Umweltschutzverein oder einer Menschenrechtsorganisation, deren Beiträge monatlich bequem abgebucht werden: Die gute Tat an der Urne ist getan, und die nächsten fünf Jahre lässt es sich wieder ruhig schlafen.

Die Umsetzung grüner Visionen hat auch ihre Kehrseite

Hehre Ideale ohne Chance auf Verwirklichung? Wer eine umgesetzte grüne Vision sehen möchte, muss über die Grenzen blicken, nach Freiburg im Breisgau, dem Eldorado des Postmaterialismus. Seit elf Jahren wird die Stadt in Baden-Württemberg von einem grünen Bürgermeister regiert und ist längst keine klassische Großstadt mehr. Nirgends in Mitteleuropa lebt man nachhaltiger und biologischer. Mietshäuser aus den Sechzigern wurden in Niedrigenergiehäuser umgewandelt, mit Dreifach-Isolierverglasung der Fenster und speziellen Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung. Der Stadtteil Vauban, ein ehemaliges Kasernengelände der französischen Armee, ist das ökologische Musterviertel, hier steht die erste Passivhaussiedlung der Welt. Autos sind ein Fremdkörper, drei von vier Bewohnern wählen grün, und manche zeigen schon einmal stolz ihre Vakuumtoilette her.

Die Kehrseite: Freiburg ist einer der gefragtesten Immobilienstandorte, die Mieten schossen in die Höhe, 44 Prozent des Einkommens geben die Menschen für Wohnungskosten aus, sagt der Mieterverein Regio Freiburg, in den Trendvierteln ist es noch mehr. Um die Stadtfinanzen zu sanieren, wollte der Bürgermeister gar die stadteigenen Wohnungen an einen Investor verhökern – ein Bürgerentscheid konnte das verhindern.

Nun ist Wien nicht Freiburg. Die deutschen und österreichischen Grünen eint vieles, aber trennt so manches. Während ihre Umfragewerte in der Bundesrepublik mager aussehen, geht es in Österreich steil bergauf. „100 Prozent Bio, 0 Prozent korrupt“ kommt gut an in einem Land, das von einem Korruptionsskandal in den nächsten stolpert. Ob überheblich oder nicht, die Grünen haben längst bewiesen, dass sie mehr können, als nur von der Oppositionsbank aus zu stänkern. Vier Bundesländer und Wien werden von ihnen mitregiert. Und trotz so mancher Tollpatschigkeit wie jener in der Mariahilfer Straße ist die Ökodiktatur nirgends ausgebrochen, das Autofahren nicht nur den oberen Zehntausend vorbehalten, und Haschtrafiken säumen ebenso wenig die verkehrsberuhigten Begegnungszonen.

Man kann einiges Gutes über die Grünen sagen: Man kann sie als eine Partei mit neuen Visionen und Mut zur Veränderung sehen. Sie haben den Umweltschutz salonfähig gemacht und treten scharf gegen geschmacklose Migrationsrhetorik auf. Die Aufdeckung der Korruptionsskandale ist vor allem ihr Verdienst. Doch wer allzu oft recht hat, läuft Gefahr zu glauben, immer im Recht zu sein.

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Prism, NSA und das Jahr 1819

Kutscher Europas, Erfinder des Überwachungsstaates oder Vordenker der EU – Wolfram Siemann über die Reizfigur Metternich von 

Am Wiener Kongress 1814/15 wurde geordnet, was die napoleonischen Kriege zerstört hatten. Maßgeblich daran beteiligt war Österreichs Außenminister Klemens Wenzel Lothar von Metternich. Doch seinen Ruf prägen bis heute die Karlsbader Beschlüsse, die 1819 unter anderem die Pressezensur und die Überwachung der Universitäten einführten. Seither gilt Metternich als Urvater der Bespitzelung und des Polizeistaates. Der Münchner Historiker Wolfram Siemann möchte dieses Bild zurechtrücken.

DIE ZEIT: Wenn es um staatliche Überwachung geht, wird stets irgendwann Metternich bemüht, auch im Zuge des NSA-Skandals. Ärgert Sie das?

Wolfram Siemann: Die Technologie von Prism und dem sogenannten Metternichschen System ist natürlich nicht vergleichbar. Die Intention aber schon: Der Staat liest mit. Das muss nicht von vornherein falsch sein, wenn es Instrumente der Rechtsstaatlichkeit gibt. Der bundesdeutsche Verfassungsschutz forscht ja auch verfassungsfeindliche Institutionen aus.

ZEIT: Von welchem Metternich-Bild gehen diese Vergleiche aus?

Siemann: Davon, dass er ein allmächtiger Politiker gewesen sei, der nicht nur in der Habsburgermonarchie, sondern auch im Deutschen Bund und in ganz Europa alles seinem Willen unterwerfen konnte. Das konnte er natürlich nicht. Metternich konnte nichts machen, was nicht von Kaiser Franz genehmigt wurde. Von 1816 bis 1846 versuchte er in einem Zivilprozess über mehrere Instanzen vergeblich sich eines Käufers seiner Güter zu erwehren, der sich von ihm übervorteilt fühlte. Der angeblich allmächtige Staatskanzler war da machtlos. Damals wie heute stehen wir vor der Frage des Abwägens zwischen Sicherheit und Freiheit. Dieses Problem war Metternich bewusst, und er verteidigte auch die Freiheit!

ZEIT: Welche Freiheit denn?

Siemann: Unter anderem die bürgerliche Freiheit. Aber er akzeptierte auch die Pressefreiheit Englands. Das ist für mich das Irritierende: Er kreierte auf Wunsch der Mittel- und Kleinstaaten maßgeblich die Karlsbader Beschlüsse, erlebte aber andererseits eine freie Gesellschaft in England und lamentierte dort nicht über die freie Presse, sondern las sie, und er gründete im Londoner Exil selbst eine Zeitung, den Le Spectateur de Londres, der aber keinen Erfolg hatte. Er wusste die Presse geschickt für sich zu nutzen: Einem befreundeten Journalisten beim Morning Chronicle schickte er Berichte über sich und Österreich, die unter dem Namen des Journalisten erschienen. Das Metternich- und Österreich-Bild der britischen Presse war seit 1848 stark von Metternich selbst geprägt.

ZEIT: War Metternich zu Lebzeiten verhasst?

Siemann: Er polarisierte. Die Formulierung des Metternichschen Systems ist ja zeitgenössisch. Und ich habe beides gefunden: Lobhudeleien, aber auch Aufrufe zu einem Attentat.

ZEIT: Ernst zu nehmende?

Siemann: Er hat sie gesammelt und hatte nach dem Sand-Attentat (1819 ermordete der Student Karl Ludwig Sand den Schriftsteller August von Kotzebue, Anm.) Angst, selbst getötet zu werden.

ZEIT: Die Karlsbader Beschlüsse wurden mit diesem Attentat und der Terrorbedrohung gerechtfertigt. War die real?

Siemann: Man weiß noch zu wenig über die Dimensionen des frühen europäischen Terrorismus. Es gab eine Serie von Anschlägen und Attentatsversuchen auf europäische Könige und Politiker. Ich bezweifle, dass ein System dahintersteckte. Aber als nach 1815 die südeuropäischen Revolutionen losgingen, entstand die Furcht, dass Einzeltaten ein Signal für den Start einer revolutionären Bewegung sein könnten. Das war nicht erfunden, das sagten die Attentäter selbst. Ich gebrauche immer das Beispiel der siebziger Jahre in der Bundesrepublik. Auch damals gab es gezielte Angriffe auf Funktionsträger und führende Unternehmer. Im Grunde war auch der Bundeskanzler im Visier. Das politische System hat darauf mit Maßnahmen reagiert, die bis hin zur Kontrolle von Leserbriefen gingen, um daraus mögliche politische Absichten abzuleiten. Dazu ist das, was 1819 unternommen wurde, relativ mäßig.

ZEIT: Die Terrorgefahr war nicht erfunden?

Siemann: Man findet eine Reihe von beschlagnahmten Schriften, die direkt zum Fürstenmord aufrufen. Wie soll man damit umgehen? Wenn heute jemand zur Ermordung des Bundespräsidenten aufruft, fällt das auch nicht unter Meinungsfreiheit. Wie geht man also mit dem Verfassungs- oder Staatsschutz in einem anderen historischen Zeitalter um? Ist dort richtig, was heute selbstverständlich als bekämpfenswert gilt?

ZEIT: In einer völlig anderen Staatsform …

Siemann: Aber Österreich war kein absolutistischer Staat. Er hatte zwar keine geschriebene Verfassung, aber altständische Verfassungen. Der Kaiser hatte nicht die alleinige Souveränität, er musste die Rechte der böhmischen oder ungarischen Stände respektieren. Heute hat man wieder etwas Verständnis für diese Staatsform, weil es in der Europäischen Union ähnlich ist. Es überlappen sich verschiedene Rechtskreise, die nebeneinander existieren – darüber schwebt ein verbindendes Element, damals das Kaisertum und zwar in einer Art gestufter Staatlichkeit. Solange das in der Habsburgermonarchie funktionierte, war man mehr oder weniger erfolgreich. Als die Nationalitäten versuchten, Staat im Staat zu werden, brach alles auseinander, das Geschäftsprinzip wurde ein anderes. Nicht mehr die Rechtsordnung sollte das Zusammenleben sichern, sondern das national homogene Territorium. Das erzeugte die blutigen Konflikte. In der gestuften Staatlichkeit gab es keine Minderheiten. Erst durch den Nationalstaat wurden nationale Minderheiten konstruiert.

ZEIT: Die Voraussetzungen für die Urkatastrophe, den Ersten Weltkrieg.

Siemann: Genau. Metternich hat das vorhergesehen. Es gibt eine handschriftliche Notiz aus dem Jahre 1850 von ihm, da schreibt er: „Zwei Elemente sind in der Gesellschaft aufgetaucht, welche geeignet sind, ihre Ruhe bis in den Grund zu erschüttern: die Ausdehnung des Grundbegriffs der Nationalität auf das Gebiet des politischen Besitzstandes“ – damit ist ein Territorium gemeint – „und auf dessen Bezeichnung durch die Sprache“.

ZEIT: Im kollektiven Gedächtnis ist Metternich kein Vordenker, sondern ein Unterdrücker.

Siemann: Es ist einfach, historische Vorgänge zu personalisieren. Er stand am meisten in der Öffentlichkeit. Woher der Hass kommt, der ihm später entgegenschlägt? Für die alte europäische Staatlichkeit gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Verständnis mehr. Das Zarenreich, das britische Empire, die Habsburgermonarchie, das Osmanische Reich, sie waren Imperien, nicht nationale Staaten. Der Impetus der Historiker wurde aber ein nationaler, ihr Pathos kam vom Nationalstaat. Und Metternich galt als dessen Unterdrücker.

ZEIT: Und doch förderte er nationale Interessen.

Siemann: Er hat zwischen dem Nationalstaatsprinzip und der kulturellen Entfaltung von Nationalitäten unterschieden, die er als ein Wesenselement der Menschen ansah, das man nicht einschränken dürfe. Diese Nationalitäten sahen ihr Glück aber zusehends in der Einheit von Staat, Volk und Territorium. Wenn man sich die Perversion des Nationalismus ansieht, gerade in Deutschland und Österreich, dann muss man sich fragen, ob es nicht andere politische Ordnungsmuster gibt, wie Menschen rechtlich miteinander leben können. Dafür wächst wieder das Bewusstsein. Die Europäische Union ist eine Relativierung des Nationalen.

ZEIT: Das Konferenzsystem, das am Wiener Kongress beschlossen wurde, brachte eine relativ lange Friedensperiode. Sehen Sie Ähnlichkeiten zur europäischen Einigung nach 1945?

Siemann: Dabei kommt mir die EU ein wenig zu schlecht weg. Das europäische System der souveränen Imperien im 19. Jahrhundert ist anders gestrickt als die EU, die fast so etwas wie eine Verfassung hat. Die G 8 oder die G 20 hingegen sind der Versuch souveräner Staaten, gemeinsame Richtlinien zu finden, etwa im Umgang mit der Syrienfrage. Das ist eine Konferenzdiplomatie, die gewisse Ähnlichkeiten mit dem Wiener System hat.

ZEIT: Lassen sich aus der Beschäftigung mit Metternich Lehren für die heutige Welt ziehen?

Siemann: Die Geschichte gibt keine einfachen Handlungsanweisungen, sie wiederholt sich nicht. Aber es lassen sich falsches Denken, falsche Erwartungen oder die Konstruktion falscher Zusammenhänge erkennen. Man kann viel über die Auseinandersetzung mit Nationalität und Territorialität lernen. Das ist ein Dauerproblem, das vielerorts nicht gelöst ist. Ich finde es absurd, einen Staat nur nach Nationalität zu definieren. Schauen Sie die Palästinenser an, die wollen einen Staat haben, 50 Prozent von ihnen leben aber in Jordanien, was macht man mit denen? Andererseits: Eineinhalb Millionen Araber leben in Israel – hier funktioniert offenbar etwas, das eigentlich ausgebaut werden sollte. Oder ein eigenes Baskenland – das sind Träume, weil man glaubt, dann breche völlige Selbstbestimmung aus. Für mich ist das eine Utopie.

ZEIT: Eine Lösung hatte Metternich aber nicht.

Siemann: Nein, aber um sich von diesen Illusionen heilen zu lassen, hilft ein Studium der Nationalitätenprobleme des 19. Jahrhunderts und der Antworten, die der damals nicht zeitgemäße Metternich darauf gefunden hat. Ich empfinde viele seiner Diagnosen oder Urteile heute als zeitgemäß.

Wolfram Siemann:

wurde 1946 in Witten in Nordrhein-Westfalen geboren, studierte Geschichte in Münster, Wien und Tübingen und war von 1996 bis zu seiner Emeritierung Professor für neuere und neueste Geschichte in München. Er forscht intensiv über das 19. Jahrhundert und arbeitet derzeit an einer umfangreichen Metternich-Biografie. Als Vorgeschmack erschien 2010 das Buch Metternich – Staatsmann zwischen Restauration und Moderne in der Reihe Beck Wissen.

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Flucht nach Drehbuch

Hollywood rettete viele Schriftsteller aus Europa mit einem Job in der Traumfabrik. Erfolg hatten sie beim Film aber nicht. von 

Es war eine hehre Idee mit einem noblen Ziel: Schriftsteller auf der Flucht vor den Nationalsozialisten bekamen von Filmstudios in Hollywood Einjahresverträge als Drehbuchautoren und damit die Möglichkeit, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Als Vermittler trat Paul Kohner auf, der in Österreich-Ungarn geborene Sohn eines jüdischen Kinobesitzers aus Teplitz-Schönau in Nordböhmen. Er war 1921 als 19-Jähriger in die USA emigriert und machte rasch eine glänzende Karriere im Filmgeschäft. 1938 gründete er seine eigene Agentur, die später legendär wurde. Im Laufe seiner Karriere vertrat er unter anderem Billy Wilder, Henry Fonda, Ingmar Bergman. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde die Agentur zur Anlaufstelle und lebensrettenden Adresse für viele Emigranten.

1940 fädelte Kohner gemeinsam mit dem Emergency Rescue Committee und mit Unterstützung von Präsident Roosevelt den Deal mit den Filmstudios ein: Für 100 Dollar die Woche sollten die Einwanderer oder solche, die es werden wollten, Stoff für neue Filme liefern. Unter ihnen waren eine Reihe von Österreichern, die hofften, in Amerika Zuflucht zu finden, darunter Friedrich Torberg, Vicki Baum, Felix Salten oder Ralph Benatzky. Sie alle wandten sich mit ihren Ideen an Kohner, manchmal waren es nicht mehr als dürftige Skizzen. Die wenigsten hatten Erfahrung im Filmgeschäft.

Die Qualität der Arbeiten war dementsprechend dürftig, der Großteil der Geschichten wurde nie verfilmt. Fünfundzwanzig dieser abgelehnten Texte aus dem Nachlass Paul Kohners sind nun erstmals erschienen, in einem von dem Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen und der Literaturwissenschaftlerin Heike Klapdor herausgegebenen Buch.

So unterschiedlich die gesammelten Exposees und Entwürfe auch sind, sie haben eines gemeinsam: Ihre Autoren waren berühmte Schriftsteller, die am amerikanischen Film scheiterten.

„Ich habe keine Luft mehr. Verhelfen Sie mir sofort nach Amerika“, schrieb Joseph Roth an seinen amerikanischen Literaturagenten. Gemeinsam mit dem Wiener Autor Leo Mittler schrieb er eine dramatisches Skizze mit dem Titel Der letzte Karneval von Wien und sandte es an Kohner. Es ist eine Geschichte die, wie so viele andere in dem Buch, vor Klischees nur so strotzt. Die Hauptdarstellerin sei eine „typische Wienerin“, schreiben die beiden und präzisieren: „Graziös und charmant. Witzig und unsentimental. Das Herz am rechten Fleck. Aufopfernde Mutter. Gute Kameradin des Sohnes.“ Und, als wäre das noch nicht genug: „zärtlichste Geliebte“.

Wie selbstverständlich beginnt die Handlung mit Walzertakten im Rathaus, entwickelt sich dann zu einer verzwickten und doch erschreckend langatmigen Liebesgeschichte, immer wieder unterbrochen von Bällen in Schönbrunn und Wienerliedern beim Heurigen – ein Stakkato an Plattitüden. Und weil das alles noch nicht reicht – man wartet als Leser fast darauf –, taucht ein verschollenes Musikstück von Ludwig van Beethoven auf. Selbst für hartgesottene Freunde des Schnulzenkinos wäre die Verfilmung des Stoffs eine schwer verdauliche Kost geworden.

Paul Kohner hatte schier endlose Geduld mit den Autoren. Seine Ablehnungen begründete er stets ausführlich, entschuldigte sich dafür und versicherte, sich darauf zu freuen, „andere Sachen von Ihnen lesen zu können, die sich besser für Verfilmungen eignen“, wie er im September 1941 an den Humoristen Alexander Roda Roda nach New York schreibt.

Die Geschichten erzählen viel davon, wie die Autoren jene Welt, die sie verlassen mussten und in der nun die Nazis wüteten, gern in Erinnerung behalten wollten. Der literarische Wert ist zwar gering, lesenswert sind die nostalgischen Verklärungen trotzdem. Besonders gelungen sind aber die editorischen Notizen der Herausgeber zu den Stücken, die biografischen Hinweise und die Zusammenstellung der Korrespondenz Kohners mit den glücklosen Drehbuchautoren.

Es ist nicht wirklich bedauernswert, dass aus den in diesem Buch versammelten Texten keine Filme wurden, die Kinogeschichte wurde um keine Perlen gebracht. Doch der Ausflug in die Werkstatt der Autoren ist allemal ein spannendes Leseerlebnis.

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„Zum Akt kam es nicht“

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Heinrich Wildner war wohl kein sehr umgänglicher Mensch. Der Diplomat, der Anfang des 20. Jahrhunderts in den auswärtigen Dienst eintrat, legte schon mal Dossiers über Kollegen an, hatte intime Kenntnisse über Politiker und deren Mitarbeiter und soll einen schroffen Umgangston gepflegt haben. Doch für die Nachwelt hat er einen Schatz hinterlassen: Bis 1950 führte er Tagebuch, von der Monarchie bis in die zweite Republik. Außer in der NS-Zeit war er immer nah an den Schaltstellen der politischen Machtträger. Er war ein großartiger Beobachter und ein talentierter Schreiber. Die Bände im Staatsarchiv waren bis vor wenigen Jahren gesperrt. Nun wird zumindest ein Teil veröffentlicht: Der Jahrgang 1945 erschien 2010. Jener von 1946 wird dieses Jahr vom Außenministerium veröffentlicht: Inklusive Bordellbesuche des Ministers in Paris und Waldheims SA-Mitgliedschaft. Ich habe mir die Originaldokumente im Staatsarchiv näher angesehen: Das unbequeme Tagebuch